Wie erlangt man diese persönliche Qualifizierung?
Professor Stefan Süß: Eine der zentralen Fragen ist der Umgang mit dem Mailverkehr. So viele E-Mails wie ich bekomme, so viele Briefe hat mir früher keiner geschrieben. Alleine durch die CC- und BC-Funktionen erhält man mehr Informationen, die man bewältigen muss. Hier gibt es keine Patentlösung, sondern jeder muss seinen Weg finden, der auch von der Persönlichkeit abhängt. Es ist genauso legitim, im Urlaub und abends Mails zu lesen, wie drei Wochen lang das Smartphone oder Tablett wegzuschließen.
Warum ist diese persönliche Qualifizierung so wichtig?
Professor Stefan Süß: Aus der Forschung wissen wir, dass diese Datenflut, diese Entgrenzung zwischen Arbeit und Privatleben gesundheitliche Probleme bereiten kann, weil Arbeitnehmer nicht mehr abschalten können. Um das zu vermeiden, muss jeder einen gesunden Umgang mit den ganzen Informationen finden. Flexibilität hat immer zwei Seiten: Man kann überall arbeiten, aber wo zieht man die Grenze? Studien haben auch gezeigt, dass Arbeitnehmer im Home-Office mehr arbeiten. Selbstorganisation und Selbstdisziplin sind daher wichtige Kompetenzen.
Politik, Wissenschaft und Wirtschaft mahnen immer wieder die Notwendigkeit des „Lebenslangen Lernens“ an. Wann müssen Arbeitnehmer die Komfortzone verlassen und sich weiterbilden?
Professor Stefan Süß: An dem ersten Tag, an dem die formale Ausbildung oder das Studium beendet ist. Die Notwendigkeit des „lebenslangen Lernens“ gab es schon immer. Ein Dachdecker hat auch 1950 anders gearbeitet als 1970 – auch wenn er immer noch den gleichen Beruf hatte. Nur die Rasanz der Entwicklungen hat stark zugenommen. Dabei wird vieles auch nicht als Lernen wahrgenommen. Statt dem Telefon mit der Wählscheibe aus unserer Kindheit bedienen wir heute ein Smartphone. Das ist auch ein Lernprozess. Genauso ist es im Beruf. Wir lernen ständig sehr viel, während wir unseren Job machen.
Das reicht aber nicht immer. Wie kann man aus dem großen Angebot an Fortbildungen bestimmen, was sinnvoll für die Karriere ist?
Professor Stefan Süß: Letztlich braucht man immer die Kompetenz, die gerade von einem gefordert wird. Orientieren kann man sich eigentlich nur an seiner alltäglichen Arbeit. Wo habe ich meine Defizite, wo sieht eventuell mein Vorgesetzter Probleme bei mir und wie kann ich diese sukzessive verbessern?
Bei einer Google-Suche nach Fortbildungen bestimmt möglicherweise der Algorithmus, was mir angeboten wird. Woran erkennt man seriöse Anbieter?
Professor Stefan Süß: Das kommt darauf an, worin ich mich weiterbilden will. Will ich mich sehr generalistisch oder eher spezifisch weiterbilden? Soll meine Weiterbildung mir das große Ganze aufzeigen? Dann wäre ein Zweitstudium oder MBA-Studium das Richtige. Oder brauche ich eine ganz spezifische Kompetenz? Personalabteilungen haben häufig mit verschiedenen Anbietern Erfahrungen gesammelt und können Einschätzung liefern. Bei allen Empfehlungen kommt noch der persönliche „Fit“ hinzu. Was für meinen Kollegen gut war, bringt mich nicht unbedingt weiter.
Warum sollte ich heute einen akademischen Abschluss anstreben, wenn alle auf die sogenannten Hipster der Start-Up-Szene schielen, wo vor allem Kreativität zählt?
Professor Stefan Süß: Da gibt es natürlich einige tolle prominente Beispiele, aber das sind dann doch nur die allerwenigsten. Die große Masse hat andere Berufswege. Akademische Abschlüsse halte ich für sehr wichtig, weil sie einen lange etablierten Qualitätsstandard und eine Vergleichbarkeit spiegeln. Wenn drei Personen BWL in Düsseldorf, München oder Hamburg studiert haben, dann habe ich eine gewisse Vergleichbarkeit, was diese Absolventen wissen.
Es ist nicht umsonst so, dass die meisten Universitäten vom Staat getragen werden, dass Studiengänge akkreditiert sind, die Lehre unabhängig ist. Damit haben wir sehr viele Qualitätsstandards eingebaut. Ein Universitätsabschluss ist daher ein Indikator für etwas sehr Solides. Natürlich dürfen sich auch universitäre Studiengänge – da nehme ich unsere an der HHU Düsseldorf gar nicht aus – aktuellen Entwicklungen nicht verschließen und müssen diese transportieren.
Viele Unternehmen wissen selbst nicht, was der Wandel bringt – nur dass alles „agiler und flexibler“ werden soll. Wie kann man sich als Arbeitnehmer hierauf vorbereiten?
Professor Stefan Süß: Mit dem Begriff „Agilität“ habe ich Schwierigkeiten. Ich habe noch immer nicht 100 Prozent verstanden, was das genau sein soll. Unter Flexibilität kann ich mir eher etwas vorstellen. Vorbereiten kann man sich dadurch, dass man offen bleibt für Neues, dass man versucht, sich weiterzubilden und keine Angst vor Veränderungen hat. Ich glaube aber nicht, dass ich Agilität oder Flexibilität lernen kann. Das sind eher Oberbegriffe für bestimmte Verhaltensweisen, die möglicherweise weit vor der beruflichen Sozialisation geprägt worden sind.
Muss sich ein Babyboomer, der die Rente vor Augen hat, anders aufstellen als einer aus der Generation X, der noch 20 Jahre mitmischen möchte und letztlich auch muss?
Professor Stefan Süß: Das kommt auf die persönlichen Ambitionen an. Mit 55 Jahren kann man durchaus sagen, dass man nichts mehr lernen will, weil man in zehn Jahren in den Ruhestand geht. Andere in diesem Alter haben Lust auf Neues, wollen vielleicht noch einen hierarchischen Sprung erleben. Dann spielt es auch keine Rolle, ob ich Generation X oder Y bin. Ich werde entsprechend offen herangehen und mich weiterqualifizieren. Die Zeiten, in denen man seinen Beruf in zehn Jahren noch genauso ausübt wie in den vergangenen 30 Jahren, sind aber definitiv vorbei.
Können die Älteren überhaupt mit den so genannten „Digital Natives“ konkurrieren?
Professor Stefan Süß: Gewiss. Ältere Arbeitnehmer verfügen über viele Softskills, die sie in die Waagschale werfen können. Dazu zählen Erfahrungen und eine größere Gelassenheit. Auch die Tatsache, dass man schon verschiedene Krisen- oder Veränderungssituationen durchlebt hat, die für jüngere Kollegen zunächst einzigartig sind, stärkt ein Unternehmen. Im Handwerk besitzen ältere Mitarbeiter häufig bessere handwerkliche Fähigkeiten.
Welche Skills sollten grundsätzlich gestärkt werden, um sich im Transformationsprozess zu behaupten?
Professor Stefan Süß: Das sind auf der Ebene der Fähigkeiten die digitale Kompetenz und die Employability – also die Beschäftigungsfähigkeit. Dazu muss man am Puls der Zeit bleiben. Daneben ist die bereits erwähnte Selbstorganisation entscheidend, der klassische Nine-to-Five-Job ist vorbei. Unsere Eltern konnten abends nicht arbeiten, denn dann hätten sie Aktenordner mit nach Hause schleppen müssen. Heute haben wir unser Büro auf dem Tablet oder Smartphone.
Zugleich herrscht ein Facharbeitermangel, Medien sprechen gerne vom „War for Talents“. Werden Ihnen die Absolventen aus der Hand gerissen?
Professor Stefan Süß: Das kann man schon sagen. Unsere BWL-Absolventen sind relativ generalistisch qualifiziert und hier ist der „War for Talents“ schon spürbar. Es gibt keinen, der nicht spätestens ein halbes Jahr nach dem Abschluss eine Stelle hat, die meisten haben sie schon vor dem Examen. Das mag anders sein, wenn ich Altgriechisch oder Philosophie studiere, wo ich einen wesentlich kleineren Arbeitsmarkt habe. Aber den „War for Talents“ spüren wir nicht nur bei Akademikern, sondern auch im Handwerk, in der Pflege und Bereichen, wo ich oft gar keine besondere Ausbildung brauche, wie etwa im Service der Gastronomie.
Müssen sich HR-Abteilungen anders aufstellen, um sich Talente zu sichern?
Professor Stefan Süß: Das müssen sie auf jeden Fall. Die aktive Rekrutierung, was wir Active Sourcing nennen, wird immer wichtiger. Potenzielle Mitarbeiter müssen über berufliche Netzwerke wie Xing direkt angesprochen werden. Das machen Unternehmen in dynamischen Branchen und Personalberater bereits heute. Wenn der Arbeitsmarkt leergefegt ist, muss man die Rosinen rauspicken. Aber diese müssen zunächst einmal identifiziert werden.
Das bringt volkswirtschaftlich natürlich wenig. Wenn das eine Unternehmen einen neuen Mitarbeiter findet, reißt woanders eine Lücke auf. In anderen Bereichen wie der Pflege gibt es Initiativen, Fachkräfte aus dem Ausland anzulocken. Dann entsteht die Lücke im Ausland – was aber dann oft hier niemanden interessiert….
Wie werden Arbeitgeber attraktiver für Mitarbeiter? Mittlerweile müssen sich sogar renommierte Unternehmen, die früher unter den Besten wählen konnten, um Bewerber bemühen.
Professor Stefan Süß: Natürlich haben es die großen Namen noch leichter als die kleinen mittelständischen Unternehmen, beispielsweise im Siegerland oder Ostwestfalen. Das sind vielleicht tolle Arbeitgeber, aber die jungen Kräfte wollen in die Metropolen und nicht nach Lemgo oder Siegen. Insofern kann ein Unternehmen seine Attraktivität zum Teil beeinflussen, zum Teil aber auch nicht, weil es am Standort oder der Branche liegt.
Interessanterweise färbt das Image des Produkts, das hergestellt wird, stark auf den Arbeitgeber ab. Deshalb wollen viele junge Ingenieure bei Porsche, Audi oder BMW arbeiten, weil sie diese Autos mögen. Obwohl man gar nicht weiß, ob diese Hersteller auch faire Arbeitgeber sind. Das ist ein großes Problem für viele deutsche KMUs, die sehr viel machen müssen, um überhaupt wahrgenommen zu werden.
Wie können solche kleinen und mittelständischen Unternehmen auf sich aufmerksam machen?
Professor Stefan Süß: Da gibt es viele Möglichkeiten, etwa über Arbeitszeitregelungen, Mentoring-Programme, Unternehmenskultur. Ich kann meine Ausschreibung bewusst an bestimmte Personengruppen richten – etwa weibliche Ingenieurinnen, weil das möglicherweise eine Gruppe ist, die nicht so stark umworben wird. Wenn ich das mache, würde ich vielleicht stärker Work-Life-Balance-Aspekte betonen. Hier kann eine sehr zielgruppenspezifische Rekrutierung helfen. Man muss heute sehr viel mehr Schienen bespielen als noch vor einigen Jahren, um an die qualifizierten Leute heranzukommen.
Das eine ist das knappe Angebot an Fachkräften, zum anderen spielt Arbeit bei den nachrückenden Generationen nicht mehr eine so große Rolle wie noch vor 20 Jahren. Wie wichtig ist die Work-Life-Balance?
Professor Stefan Süß: Das Thema „Life“ spielt zunehmend eine größere Rolle. Das lässt sich tatsächlich wissenschaftlich belegen. Deshalb müssen Unternehmen hier Zugeständnisse machen, beispielsweise mit Blick auf mögliche längere Auszeiten für Reisen. Mitarbeiter sind auch weniger an Überstunden interessiert oder wollen nur vier Tage in der Woche arbeiten. Das sind alles Indikatoren dafür, dass bei der Generation Y und Z das Leben außerhalb der Arbeit eine größere Rolle spielt.
Man scheint auch weniger bestrebt zu sein, die Karriereleiter aufzusteigen. Einer Umfrage der Boston Consulting Group zufolge wollen nur sieben Prozent der Mitarbeiter in Deutschland in den kommenden fünf bis zehn Jahren eine Führungsposition übernehmen.
Professor Stefan Süß: Führung kann mit Blick auf die Work-Life-Balance auch negativ belegt sein. Führung heiß Verantwortung übernehmen, nicht geregelte Arbeitszeiten haben, unangenehme Entscheidungen treffen. Es kann sein, dass dies heute als weniger attraktiv wahrgenommen wird.
Der außergewöhnlich lange konjunkturelle Aufschwung scheint sich zu Ende zu neigen. Hat das Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt?
Professor Stefan Süß: Es ist derzeit nicht zu erwarten, dass Deutschland in den nächsten Jahrzehnten in eine größere Massenarbeitslosigkeit hineinläuft, auch nicht durch die Digitalisierung. Der Arbeitsmarkt unterliegt Schwankungen und da wird es einmal mehr und einmal weniger Arbeitslose geben. Ich kann mir aber im akademischen Qualifikationsniveau nicht vorstellen, dass die Nachfrage dramatisch kippt.